Edgar Allan Poe
Eine Geschichte aus Jerusalem
Lucan, Pharsalia, II, 375/6
...eine borstige Last – –
Übersetzung
»Laßt uns zu den Wällen eilen,« sagte Abel-Phittim zu Bazi-Ben-Levi und Simeon dem Pharisäer, am zehnten Tage des Monats Thamuz dreitausendneunhundertundeinundvierzig – »laßt uns zu den Wällen am Tore des Benjamin in der Stadt Davids eilen, das auf das Lager der Unbeschnittenen niederblickt; denn es ist Sonnenaufgang und die letzte Stunde der vierten Wache, und die Götzendiener sollten uns, dem Versprechen des Pompejus gemäß, mit den Opferlämmern erwarten.
«Simeon, Abel-Phittim und Bazi-Ben-Levi waren die Gizbarim oder Unterempfänger der Opfergaben in der heiligen Stadt Jerusalem.
»Wahrlich, laßt uns eilen«, erwiderte der
Pharisäer; »denn diese Großmut der Heiden ist ungewöhnlich, und
Wankelmütigkeit ist den Baalanbetern eigentümlich.«
»Daß sie wankelmütig und hinterlistig sind, das
ist so wahr wie der Pentateuch«, sagte Bazi-Ben-Levi; »aber nur gegen
das Volk des Adonai. Wann hätte es sich je gezeigt, daß die Ammoniter
gegen ihre eigenen Interessen gehandelt hätten? Ich meine, es sei kein
besonderes Zeichen von Großmut, uns für den Altar des Herrn [92] Lämmer zuzugestehen, wenn sie statt dessen für den Kopf dreißig Silberschekel erhalten!«
»Du vergißt jedoch, Ben-Levi,« entgegnete
Abel-Phittim, »daß der Römer Pompejus, der jetzt die Stadt des
Allerhöchsten gottlos belagert, keine Gewißheit hat, ob wir nicht die
derart für den Altar erworbenen Lämmer mehr zur Pflege des Leibes denn
des Geistes verwenden.«
»Nun, bei den fünf Ecken meines Bartes,« rief der
Pharisäer, der zu der Sekte gehörte, die man »die Werfer« nannte (jene
kleine Gruppe von Heiligen, deren Art, die Füße aufs Pflaster zu werfen
und daran zu zerfetzten, für die weniger eifrigen Gläubigen lange ein
Stachel und ein Vorwurf war – ein Stein des Anstoßes für weniger begabte
Erdenpilger) – »bei den fünf Ecken des Bartes, den zu scheren mir als
Priester verboten ist –, müssen wir den Tag erleben, da ein
gotteslästerlicher und götzendienerischer römischer Emporkömmling uns
beschuldigen soll, die heiligsten und geweihtesten Dinge fleischlichen
Gelüsten zuzuführen? Müssen wir den Tag erleben, da –«
»Wozu uns um die Gründe des Philisters kümmern,«
fiel Abel-Phittim ein, »denn heute ziehen wir zum erstenmal Vorteil aus
seinem Geiz oder seiner Großmut; laßt uns lieber zu den Wällen eilen,
sonst könnte es an Opfergaben für den Altar fehlen, dessen Flammen die
Wasser des Himmels nicht auslöschen und dessen Rauchsäulen kein Sturm
zur Seite beugen kann.«
Der Stadtteil, dem unsre würdigen Gizbarim nun
zueilten und der den Namen seines Erbauers, des Königs David, führte,
galt als der befestigtste Bezirk Jerusalems, da er auf dem steilen und
hohen Berg Zion gelegen war. Hier wurde ein breiter, tiefer und in den
festen Stein [93]
gehauener Wallgraben von einer auf seinem innern Rand errichteten sehr
starken Mauer verteidigt.
Diese Mauer war in regelmäßigen
Zwischenräumen mit Türmen aus weißem Marmor geziert, deren niedrigster
sechzig und deren höchster hundertundzwanzig Ellen hoch war. In der Nähe
des Tores Benjamin aber erhob sich die Mauer keineswegs auf dem
Grabenrande. Im Gegenteil, wischen dem Boden des Grabens und dem
Fundament des Walles erhob sich eine senkrechte Felswand von
zweihundertundfünfzig Ellen Höhe, die einen Teil des steilen Berges
Moriah bildete.
Als also Simeon und seine Gefährten oben auf dem Turme
Adoni-Bezek erschienen – dem höchsten aller Türme um Jerusalem und dem
üblichen Ort der Verhandlungen mit dem belagernden Heer –, blickten sie
auf das feindliche Lager von einer Höhe hinab, die um viele Fuß jene der
Pyramide des Cheops überragte und um einige Fuß sogar den Tempel des
Belus.
»Wahrlich,« seufzte der Pharisäer, als er, von
Schwindel ergriffen, über den Abgrund spähte, »die Unbeschnittenen sind
zahlreich wie der Sand am Meere – wie die Heuschrecken in der Wüste! Das
Tal des Königs ist zum Tale Adommin geworden.«
»Und dennoch«, fügte Ben-Levi hinzu, »kannst du
mir nicht einen Philister weisen – nein, von Aleph bis Tau, von den
Wüsten bis zu den Zinnen nicht einen einzigen –, der auch nur im
geringsten größer wäre als der Buchstabe Jot!«
»Laßt den Korb mit den Silberschekels herunter!«
schrie hier ein römischer Soldat mit rauher, krächzender Stimme, die aus
den Reichen Plutos hervorzudringen schien – »laßt den Korb mit der
verfluchten Münze herunter, bei deren Aussprache ein edler Römer sich
die [94]
Zunge zerbrochen hat! Beweist ihr denn so unserm Herrn Pompejus eure
Dankbarkeit, der sich herabließ, eurem götzendienerischen Anliegen zu
willfahren?
Der Gott Phöbus, der ein wahrer Gott ist, hat seit einer
Stunde seine Fahrt begonnen – und wolltet ihr nicht bei Sonnenaufgang an
den Wällen sein? Aedepol! Meint ihr, wir, die Eroberer der Welt, hätten
nichts Besseres zu tun, als vor jedem Hundeloch herumzustehen und mit
den Hunden der Erde zu verhandeln? Herunter mit dem Korb! sag' ich – und
gebt acht, daß euer lumpiges Geld von hellem Glanz und rechtem Gewicht
ist!«
»El Elohim!« rief der Pharisäer aus, als die
unharmonischen Laute des Zenturios an den Felsen des Abgrunds erdröhnten
und in der Richtung des Tempels verhallten – »El Elohim! Wer ist der
Gott Phöbus? Wen ruft der Lästerer an? Du, Bazi-Ben-Levi, der du in den
Gesetzen der Heiden belesen bist und unter denen weiltest, die sich mit
Götzendienst befassen! – ist es Nergal, von dem der Götzendiener
spricht? – oder Ashimah? – oder Nibhaz? – oder Tartak? – oder
Adramalech? – oder Anamalech? – oder Sukot-Benit? – oder Dagon? – oder
Belial? – oder Baal-Perit? – oder Baal-Peor? – oder Baal-Zebub?«
»Wahrlich, es ist keiner von diesen – doch hüte
dich, das Seil zu hastig durch die Finger gleiten zu lassen; denn sollte
das Flechtwerk dort an jenem Felsenvorsprung hängen bleiben, so würden
die heiligen Gegenstände elendiglich herausstürzen.«
Mit Hilfe einer kunstlos gefügten Einrichtung
wurde nun der schwere Korb achtsam zu der Menge hinabgelassen, und aus
der schwindelnden Höhe konnte man sehen, wie die Römer sich um ihn
drängten; wegen der großen [95] Entfernung aber und eines zunehmenden Nebels konnte man keinen deutlichen Einblick in ihr Gehaben gewinnen.
Schon war eine halbe Stunde dahingegangen.
»Wir werden zu spät kommen,« seufzte der
Pharisäer, als er nach Ablauf dieser Zeit in den Abgrund hinunterspähte –
»wir werden zu spät kommen! Die Katholim werden uns vom Dienst
ausschließen.«
»Nie mehr, nie mehr werden wir im Überflusse
leben,« erwiderte Abel-Phittim, »unsre Bärte werden nicht mehr vom
Weihrauch duften – unsre Lenden mit hartem Tempelleinen gegürtet sein.«
»Raca!« fluchte Ben-Levi, »Raca! Wollen sie uns
mit dem Kaufpreis durchgehen oder, heiliger Moses, prüfen sie am Ende
gar die Schekels des Tabernakels auf ihr Gewicht?«
»Sie haben endlich das Zeichen gegeben,« rief der
Pharisäer, »sie haben endlich das Zeichen gegeben – zieh an,
Abel-Phittim! – und du, Bazi-Ben-Levi, zieh an! – Denn wahrlich,
entweder halten die Philister den Korb noch fest, oder der Herr hat ihre
Herzen erweicht, ein Tier von gutem Gewicht hineinzutun!« Und die
Gizbarim zogen und zogen, während ihre Last durch den stärker
zunehmenden Nebel schwerfällig aufwärts schwankte.
* * *
»Bewahr' uns!« – brach es nach Ablauf einer Stunde, als am Ende des Seils ein Gegenstand undeutlich sichtbar wurde, von den Lippen Ben-Levis.
»Bewahr' uns! – Pfui! es ist ein Widder aus dem Dickicht von Engedi und so buschig wie das Tal Josaphat.« [96]
»Es ist ein Erstling aus der Herde,« sagte Abel-Phittim, »ich erkenne
es am Blöcken seines Mundes und am unschuldigen Bau seiner Glieder.
Seine Augen sind schöner as Edelsteine, und sein Fleisch gleicht dem
Honig des Hebron.«
»Es ist ein gemästetes Kalb von den Weiden von
Baschan,« sagte der Pharisäer, »die Heiden haben wundersam an uns
gehandelt! Laßt uns unsre Stimmen in einem Psalm erheben! Laßt uns Dank
sagen mit Schalmei und mit dem Psalter – mit Harfe und Flöte und
Posaune!«
Erst als der Korb nur noch ein paar Fuß von den
Gizbarim entfernt war, bot sich den Blicken mit tiefem Grunzen ein
Schwein von ungewöhnlichem Umfang.
»O El Emanu!« entrang es sich langsam dem Trio,
als es seine Last fahren ließ und das befreite Borstentier kopfüber
unter die Philister stürzte, »El Emanu!« – sie verdrehten die Augen gen
Himmel – »Gott steh uns bei! – es ist das unaussprechliche Fleisch!«
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